„AWO im Gespräch“: Experten diskutieren über notwendige Reformen des deutschen Rentensystems

Das deutsche Rentensystem steht vor großen Herausforderungen. Eine der größten ist der demographische Wandel: immer weniger junge Menschen sollen eine wachsende Zahl Rentnerinnen und Rentner finanzieren. Gleichzeitig werden schon heute immer mehr Seniorinnen und Senioren zum staatlichen Versorgungsfall, die Altersarmut steigt. Die Bundesregierung hat gerade das Rentenpaket II beschlossen. Vor diesem Hintergrund diskutieren die Expert*innen Ende Juni bei „AWO im Gespräch“ in der AWO Geschäftsstelle.

Weiterer Reformbedarf beim deutschen Rentensystem

In einer ersten Runde auf dem Podium ging es um eine Bestandsaufnahme des deutschen Rentensystems. Einen grundsätzlichen Reformbedarf sehen alle Teilnehmer hier oben. „Die bevorstehende demographische Entwicklung ist mit Blick auf ein Umlageverfahren ungünstig, sagt Professor Jens Boysen-Hogrefe vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel und Experte für öffentliche Finanzen. Und weiter: „Wenn das Rentensystem gehalten werden soll, sollten wir daher über eine längere Lebensarbeitszeit reden“. Für Gustav Horn, Professor für Volkswirtschaftslehre und Leiter des wirtschaftspolitischen Beirats der SPD, setzt das Rentenpaket II wichtige Leitplanken. „Die Frage nach einer auskömmlichen gesetzlichen Rente ist eine Frage der sozialen Sicherheit für jeden Einzelnen. Die nun eingezogene untere Haltelinie von 48 Prozent beim Rentenniveau (bis 2039 Anm. Red.) ist daher eine erste Sicherheit.“

„Generationenkapital nahezu unbedeutend“

Beide Professoren sind sich einig, dass das im Rentenpaket II angekündigte „Generationenkapital“ am Aktienmarkt in Höhe von 200 Milliarden Euro zwar ein richtiger Schritt sei, dieser sei jedoch kein großer Wurf. „Das kommt viel zu spät und bleibt nun im Vergleich zu den Herausforderungen nahezu unbedeutend“, so Prof. Boysen-Hogrefe. Jutta Blankau, Präsidiumsvorsitzende der AWO Hamburg, sieht aus einem weiteren Grund enormen Reformbedarf: „Die Lohnentwicklung in den letzten Jahren ist deutlich schlechter, die Tarifbindung hat nachgelassen und die Betriebsrenten sind ein Auslaufmodell“, so Blankau. Ingo Schäfer, Referatsleiter für Alterssicherung und Rehabilitation beim DGB ergänzt: „Der Handlungsbedarf ist groß, auch mit Blick auf die versicherungsfremden Leistungen, die aus der Rentenkasse bezahlt werden. Der Bundeszuschuss zur Rentenkasse ist auch künftig zwingend erforderlich, aber es müsste transparenter diskutiert werden, welche Leistungen hiervon bezahlt werden sollen“, sagt Schäfer.

Von österreichischem Modell bis kapitalgedecktem Rentensystem

Gegen die Pläne der Bundesregierung, die Beitragssätze für Arbeitnehmer zur Rentenversicherung auf 22,3 Prozent bis 2039 zu steigern (derzeit sind es 18,6 %), gab es keinen Widerspruch in der Expertenrunde, allerdings dürfe der „Faktor Arbeit“ auch nicht zu hoch belastet werden. Aber welche Maßnahme halten die Podiumsgäste für am sinnvollsten, um eine gerechte Rente in Zukunft zu sichern? „Wir brauchen neben der Beitragserhöhung eine offene Diskussion zum Thema Rente“, so Jutta Blankau. „Dabei gilt es, auch über den Tellerrand zu gucken und erfolgreiche Systeme, wie in Österreich, bei denen alle Erwerbstätigen in die Rentenversicherung einzahlen und die Renten deutlich höher sind, näher zu betrachten“, fordert Jutta Blankau. Professor Gustav Horn schließt sich dem an: „Die Rente ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und deshalb sollten auch alle in das gleiche System einzahlen – also auch Beamte, Selbständige, Abgeordnete. Mit Blick auf die unterschiedlichen Höhen von Pensionen und Renten stellt sich auch die Gerechtigkeitsfrage.“ Professor Boysen-Hogrefe sieht keine Chance für ein Rentensystem, in das alle einzahlen müssen, das ließe sich nicht durchsetzen. Seine Position: „Hätten wir ein kapitalgedecktes Sicherungssystem, hätten wir ein Rentensystem, das funktioniert. Um den heutigen Herausforderungen zu begegnen, besteht leider nicht die Möglichkeit, ein solches System von heute auf morgen einzuführen. Eine längere Lebensarbeitszeit ist daher einer der wenigen Auswege, die ich langfristig sehe.“

„Irgendjemand muss es zahlen“

Die unterschiedlichen Positionen und Lösungsansätze für eine gerechte Rente in Zukunft werden nach unserer „AWO im Gespräch“ sicher weiter diskutiert. Einig waren sich unsere Experten in einem Punkt: „Irgendjemand muss es zahlen“. Über diese zukünftige Verteilung der Kosten bei der Rente wird sicher weiter gerungen werden. Denn neben der „Pflege“ bleibt das Thema „Rente“ wohl eine der größten sozialpolitischen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte.